Sonntag, 18. September 2016

Kleines Gedeck

Ich bin gottefroh, ist das erste regnerische Herbstwochenende. Hat dieses Jahr gedauert und schenkte mir einen spätsommerlichen Geburtstag mit vielen Gästen, wie ich es nicht gewohnt bin. Es mag wem komisch vorkommen, aber ein Sonntag mit vielen Gästen, dafür brauche ich viele Tage, das alles in mir einzubetten, abzufühlen, zu sehen und nachklingen zu lassen. Ohne nun damit das Thema zu verlassen, aber meine Hochsensibilität erzeugt bei mir schon Macken - schöne wie zerschleissende. Als wir von dem Essen mit dem grossen Tisch am Sonntag heimkehrten, öffnete ich verschiedene Geschenke nicht. Tagelang nicht. Ich kann nicht. Ich kann eine gewisse Anzahl Gesten, Blicke, Hände und eben deren Geschenke an einem Tag verkraften, gerade weil sie mich sehr glücklich machen. Aber dann will ich aufhören, weil ein weiteres Geschenk nicht mit selber Kraft noch wahrgenommen werden könnte. Funzt so wie bei guten Fotokameras, wo der Blitz nach dem Shot so steigend summt und erst, wenn das Summen erlöscht, ist der Blitz wieder ready. Manchmal bin ich dann fertig. Und so öffne ich Geschenke erst dann weiter, wenn ich für mich meine, neue gebührende Präsenz, Kraft, Liebe und Aufmerksamkeit zu haben, dafür, was man mir entgegenbringt. Klingt jetzt unschön, ich finde es aber eben gebührend. Oder anders gesagt: Ich bin manchmal emotional überfüllt, wie ein voller Kühlschrank, und muss dann erst etwas Platz gewinnen, um Neues aufzunehmen. 

Heute, eine Woche später geniesse ich eine bunte Tüte ganz besonders. Es ist noch Sonntag früh, wir waren schon mit Phibi, kauften Brötchen, genossen Frühstück und sind wieder unter die Decke geschloffen. Ich nehme die Tüte aus meiner Gabenecke, wo auch Likör steht, Bücher, ein selber gemaltes Bild, Wein und Süsszeug. Ich verkrümel mich damit aufs Sofa. Ich lese die liebevolle Karte meiner Liebsten und sehe, dass ich eine Hand voll Badezusätze geschenkt erhielt: Glück, Liebe, Harmonie, Energy, etc. - ich liebe ja Bäder. 


Bild (c) Jona Jakob, privat.

Es ist Herbst, wenn ich mir sonntags so ein 'kleines Gedeck' einrichte. Ich habe dann meine Lieblingsutensilien da: einen Schreibblock, den Tintenschreiber, Brille, Döschen und weiteres. Das Buchgeschenk im bunten Beutel 'Die zwölf Gesetze der Macht - Angela Merkels Erfolgsgeheimnisse' ... ich hatte mir das gewünscht, weil ich in Twitter darauf aufmerksam wurde. Mein Notebook ist ohnehin immer dabei, egal wo. 

Aber was ich schreiben will, weil mich eine unbekannte Seele aufreibt und innerlich beschäftigt. Was ich da tue, ist form eines Selbstgespräches um nicht verrückt zu werden. Ich lese nicht aus Neugier. Ich lese, um mich zu beschäftigen, eine fortdauernde Selbst-Auseinandersetzung, um nicht einer Sinnlosigkeit zu verfallen, die mich krank machen würde. Ebenso in diesen Tagen sandte mir Georg Parlow ein Buch aus den seinen, einen Gedichtband, in dem auf den ersten Seiten zwei Sätze von Handke stehen: "Schreiben. Das unendliche Schweigen." Genau, so geht es mir. All das Zeug, was ich so pro Woche abdrücke, niederschmetter, in die Tasten bringe und aus meinen Fingern fliessen lasse, ist irgendwie ein Selbstgespräch. Woher sollte ich sonst Stoff kriegen? Manchmal, an langweiligen Tagen, schaue ich über 10 x online in die FAZ. Dann gibt es am selben Tag keine neuen Beiträge mehr, nix, das mich nährt, und dann habe ich das Gefühl, die Welt drehe sich langsamer. Es sei einfach nichts los. Handke ist es übrigens, der - neben dem oben neu gewonnenen - einen meiner wichtigsten Sätze im Leben formuliert hat: "In der Traurigkeit das Bedürfnis, schön angezogen zu sein." Ein Abgrund - eine massive Aufgabe, den Satz auszuloten. Echter Kauknochen. Auf dem subtextlichen dieses Satzes liessen sich tagelange Workshops erarbeiten. 

Diese unbekannte Seele, die mich umtreibt, sie zeigt sich mir wie eine Spinne, die sich im eigenen Netz verheddert hat. Nicht so übel aber auch nicht mehr wirklich freigängig. Es geht ums Denken und ums Schreiben und ums sich-Einordnen, bis man niemand mehr ist. Ich kenne das. Und ich wehre mich auf andere krüpplige Weisen dagegen. Fremdbeschränkt. Da helfe ich mir selber. Schön diese Woche, dass mich überraschender Weise vier kluge Köpfe angefragt haben, verknüpft zu sein. Die haben nämlich auch Hunger nach Stoff, Denken, Querem, neuen Sichten und die mögen auch eine gewisse gewagte Klarheit. Selbst im Zweifel oder im Scheitern kann man nämlich klar sein. Man ist dann sozusagen 'abgeklärt'. Aber eben ...

Herbst. Die Melancholie hervor. Andere Musik. Zu wechselnde Worte. Ich hab sogar die 'Americana' hervorgekramt, diesen Schrotthaufen. Und so lese ich an den Rändern von Phaszinosen fremde Ansichten zu Angela Merkel, lese Musil, lese Schirrmacher, lese Cioran, lese unzählige Male x'welche Onlineformate, von BILD bis NZZ. Ab und zu rauche ich eine Cigarre; auch das geht im Herbst besser. Die Luft dazu ist frischer. 

Wenn man durch seinen Geist in eine hohe Sensibilität gezwungen ist - oder wenn eine hohe Sensibilität einem all die Denkerei aufkniet, darf man sich nicht anpassen. Das macht einen krank. Das wäre der falsche Weg. Wenn Wahrnehmung oder Geist potentieren, muss man dem Futter geben. Man muss es spielen lassen, austoben und 'sparkeln', wie mal jemand sagte. Denn nur "so" wird es einem - wegen des Ausgleichs - noch möglich, das Simple, das Banale, all das zu erfüllen und zu erledigen, was einem nicht gut tut. Es sei an dieser Stelle weder abgewertet noch verurteilt, das Simple und Banale, es ist aber für einen sensiblen Geist oder einen geistig Sensiblen so, dass auch Arbeit, Texte, Dialoge und zu Erledigendes wie bei einer Diskussion zwischen Nahrungs- und Lebensmitteln, es sowas gibt, wie 'Junk Food' - Junk Food für mein Wesen, welches sich dann rettet durch eine eigene Küche, wo ich die Zutaten, die Zubereitung, die Reinheit und Klarheit für mich bewahre, bevor mir der Müll und Trash von z.B. Fernsehen meinen Leib vergiftet. Ein einziger Satz von Handke rettet mich für Wochen: "Schreiben. Das unendliche Schweigen.". Von solcher Substanz kann ich leben.

Dass mir meine Liebste einen Tisch mit vielen Leuten, Musik, Bäder und ein Buch schenkt, ist besonders darin zu erkennen, dass sie mich sieht und kennt und mich machen lässt. Sie gewährt mir diesen Raum, in dem ich wüten können muss, ansonsten ich eingehe wie ein verfilztes Tier an einer Kette. Daher auch mein immer dabei seiendes NOTE'book. 

Wann immer mich in den letzten Jahren etwas tiefer umtrieb, waren es Seelenverwandte, ähnliche oder gleiche bzw. bekannte Formen von Abgrund, Schmerz, Leiden und Aushalten. Sein unter Umständen. Und all dessen Abformen, krüpplig, verzogen, nicht wirklich leicht oder unbetroffen. Das Schöne, .. das Schöne ist für mich nichts, was ich im Auge erkenne. Das Schöne ist ein Gefühl von Dasein, Kunst zu scheinen, so dass es anzüglich wirkt. Anzüglich subtextlich. Anzüglich driftend. Anzüglich ringend darum, im Leben gelebt zu haben, nie wirklich wissend, was das genau sein könnte. Am Abgrund - mal mehr, mal weniger. Unerfasst. Fragil. Membran. Partikular. 

Das Bild oben, das ist mir ein toll gedeckter Tisch. Mal mit einem Glas, mal mit Raucherwaren, in ganz guten Momenten im Gespräch - sonst besser im Schweigen. 

Cheers - auf die Lust, herbstlich traurig zu sein.

Jona Jakob