Dienstag, 11. September 2007

Blick über Zürich, 2007

Ihr holden Schwäne ... 

So fuhr er hoch, ein Stück Strasse am Hausberg, auch wenn ihn ein Signal davon abhalten sollte, doch gab es da ein Lokal, ein Stück weiter, und bis dort durfte er hochfahren. Vor der Mittagszeit zu liegen ermöglichte eine freie Wahl an Parkplätzen und eine noch leere Terrasse, an jenem ersten Tag des Herbstes, als er sich an frischer Luft zu ihr an den Tisch setzte.

Obwohl in ein Gespräch vertieft und zuhörend, empfand er wenig für den Blick über diese Stadt. Er sah den See, das Zentrum und Teile der ehemaligen Industriequartiere, in denen sich nun Internetmenschen das Leben teilten. Gegenüber die Technische Hochschule, der Berg mit dem Zoo und etwas weiter links davon jener Sattel, über den man zu weiteren Aussenquartieren gelangte und zum Flughafen.

Er selbst fuhr seine Stadtstrecken wie ein geübter Taxifahrer. Er lebte in dieser Stadt wie 'fliessender Strom', der an bestimmten Stellen Impulse auslöste. Diese sich wohl präsentierende und frisch haltende Urbanisierung an See, Fluss, Strassen und Häusern, an Geschäften, Unternehmen, Lokalen und Plätzen, welche sich zum Seeende hin über die Jahre etabliert und vergrössert hatte, welche wuchs und seit Jahren für weite Regionen zum verschlingenden Magneten, gleich einem schwarzen Loch, geworden war, spürte er kaum noch. Wenig Empfinden für diese Stadt, auf die er gerade hinab sah. Sie war wie ein voller Arbeitstisch, den er brauchte, doch ein Wohnzimmer war sie ihm nicht. Jedenfalls jetzt gerade nicht, da er in der Mitte seines Lebens stand.

Als Kind lernte er Flecken kennen, die wild waren und weit. Orte, an die man nur schwer gelangte und zu denen es damals noch keine Autobahnen und Telefonantennen gab. Die Läufe zu diesen Orten hatten kaum Namen, waren in Karten nicht eingetragen und wenn man ihre Wege nicht regelmässig passierte, überwuchs Dorngebüsch ihre Spuren. Alte Steine formten Ansätze von Mauern und Umrandungen, grosse Bäume reichten als Signale. Doch wo er gerade sass, da war alles erreichbar und nichts mehr geheim. Als er die Gesprächspartnerin nach dem Essen zu ihrem nächsten Termin entliess, verlor er keinen Satz und keine Nachfrage nach ihren Wegen, hatte sie doch eine digitale Strassenkarte, die ihr das Links und Rechts des besten Weges sprechend an Ohr und zum Auge brachte. Dabei war sie morgens in Deutschland gestartet, war hier nicht heimisch und hatte noch viele Ziele vor sich. Doch alles war "erreichbar", digital kontrolliert, unter einem unsichtbaren Netz von Satelliten- und Mobiltelefonquadranten, Sektoren der Antennen und Überwachung.

Der See lag ebenso unter Kontrolle von Uferzugang, Eigentum und Reglementierung, wie zu beiden Seiten die Hügel und der Stadtberg. Gepachtet, zugängig gemacht, gastronomisiert und mit Events marketingmässig aufgedrängt. Diese Stadt mit ihrem Verkehrsnetz war eine grosse Modelleisenbahn geworden, in der er kaum echte Lebensmittel für sein Dasein fand. Das Fliegen sollte geräuschlos werden, die Kommunikation sollte strahlenfrei bleiben, das Zusammenkommen sollte einem Nutzen dienen und das Zeitverstreichende dem volkswirtschaftlichen Geldkreislauf. Abenteuer? Wildnis? Unbekanntes? Das gab es nicht mehr. Letzte Gassen waren historisch erfasst, selbst in Aussenquartieren wurden geführte Rundgänge angeboten, gewisse davon geschlechterspezifisch getrennt, weil frau genau wusste, was mit dem Trennen erreicht werden sollte.
 
Und darauf blickte er, mittags, von dieser Terrasse, über dieser Fläche kontrolliertem Seins. Kampfzone? Wie lächerlich, einzig sich darum zu bemühen, unter einer Haube von Erreichbarkeit so zu tun, als hätte man noch Aufgaben. Die Kontrollen zwangen zum Erreichbaren, konkret wie moralisch. Man wurde geschubst, sich zu bewegen und sei es vom Ablaufen der Parkuhr her. Doch Wildheit, Unbekanntheit, Versteck und Alleinsein ... das gab es nicht mehr an diesem vielleicht interaktivstem Flecken einer auf Trab gehaltenen 'Reservierung'. Es war eine toll-bunte Tüte ... ihn aber plagte, dass sie keinen Inhalt mehr hatte. Vielleicht der Umstand erster Güte, auf die Wünsche und Hoffnungen aus dem Gespräch keine eigene inneren Antworten zu haben, die ein innerliches Aufbrechen gelockt hätten. Was zum Aufbruch bewegte, war ein Termin - die beiden Menschen klein machend, in seinem Zwang, und verhindernd - einem weitgehend verhindernd.


Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.
 
Hölderlin


Text von Jona Jakob, September 2007 - Copyright Jona Jakob ©