Dienstag, 25. Mai 2021

1962 - bis heute.

 Als ich 25 Jahre alt war, erhielt ich Post von meinem Vater aus Bern. Es war ein schmales Kuvert und darin fand ich nicht mehr als eine herausgerissene, vergilbte Seite eines Taschenbuches. Auf der ersten Seite fand ich keinen Zusammenhang. Auf der Rückseite hingegen war eine Stelle markiert, die folgenden Satz umfasste: 

Zitat: 

Das Eine, was not tut, ist und bleibt doch, dass ein Mensch 
im Verhältnis zu seinem Leben nicht sein Onkel ist, sondern sein Vater. 
- Sören Kierkegaard.

Das war es. Kein Wort vom Vater dazu. An dem Satz erstickte ich kurz, da ich ihn nicht zu deuten vermochte. Ich ließ ihn liegen, spürte und wusste zugleich aber, dass ich ihn nicht ignorieren können würde. 

20 Jahre später wurde ich Coach. Mein Leben fügte es, meine Ausbildungen nahmen auf mich Einfluss, meine persönlichen Reflexionen und Texte, Gedanken und die wenigen Anteile Philosophie, sie alle stellten die Frage: Wer ist man selbst? Ich auch, ich fragte: "Weißt du, wer man sein könnte?" Und aus diesem nie wirklich endenden Fragen entstand meine erste Interpretation von Kierkegaards Gedanke, 

  • dass mit 'sein Onkel' der gute Ratschlag im Leben versinnbildlicht gemeint sei, und
  • dass mit 'sein Vater' man sich in die Verantwortung zu nehmen habe, vor sich und vor anderen.

Damit erklärte ich diesen Satz gute 15 Jahre lang. Bis ich eines Tages dank dem Internet dem Satz tiefer folgte und dann zu lesen bekam, dass Kierkegaard nicht nur ein Lehrer, Philosoph und Staatsgründer war, sondern ganz besonders ein Kirchenmann, ein Theologe - das Wort 'Vater' sei daher auf 'Gott' zu verstehen. Plumps, das schlug mich zurück, denn mein Leben wurde mir ganz ohne Kirche und Gott anerzogen, Form einer höchstmöglichen Selbstständigkeit, aufrecht und auf den eigenen Beinen zu stehen. Und jetzt sollte ich diesen Satz dem Göttlichen unterstellen? Um ehrlich zu sein, das mochte ich wirklich gar nicht. In diesem Zwiespalt hielt ich mich zurück, Sörens Worte anzuwenden und sie für eine coachende Betrachtung einzubringen. Nicht weil ich gegen die Idee 'Gott' wäre oder  so, niemals. Aber ich folgte stets dem Gedanken der Individuation, einer Ganzheit als Mensch - ohne jeden Gott. Eine Anlehnung an einen Glauben war für mich viele Jahre meines Lebens so etwas wie ein Handlauf, Stützräder am Fahrrad - nimmst du die nie weg, wird kein Können daraus. So dachte ich lange Zeit und forderte, was in vielem dem Christlichen in seinen Gedanken - dem Miteinander - nicht unähnlich blieb.

Jona Jakob - Mai 2021

Nun bin ich bald 59 und muss mir erneut Gedanken zu mir machen. Wenn ich zur Idee Gott etwas verstehen könnte, dann diesen einen Gedanken: Er gab seinen einzigen Sohn her, den wir dann kreuzigten. Dies betrauern wir festlich zu Ostern. Mit 59 ist aber nicht mehr 1980 oder das Jahr 2000, es ist unterdessen 2021 geworden. Knappe 60 Jahre weiter in dieser Welt, die sich verändert und gerade zur Zeit unvorstellbaren Veränderungen nachgeht, sich wieder neu aufstellt. Jedenfalls scheint mir das so. 

Es ist nicht so, dass die Welt nicht toll wäre. Oder dass ich Leben nicht lebenswert fände. Wem ich jedoch nun den Rücken zukehre, das ist der Zeit. Die Zeit, die jetzt und die nächsten Jahre in dieser Welt verlaufen wird. Die interessiert mich - gegenüber meinen mir immanenten Haltungen (Deontologie) - nicht mehr. Ich kann darin weder bestehen, noch interessiert das wen. Da ist kein Dienst mehr zu tun, keine erfüllte Pflicht macht mir darin einen Sinn. Viel mehr mag ich so bleiben, wie ich bin. Ein Mensch, getrieben aus dem Gedanken des Humanismus, dem Werte und Haltungen in einem eher konservativen Verständnis das Leben zählen - sich nicht vom Surfen verführen lassend, ob all den schimären Möglichkeiten des Pragmatismus, der New Economy, der Optimierungen und dem immer dichter und die Freiheit raubenden Netz allem Digitalen. Ich möchte mein Glück darin begreifen, genau in dieser Zeit gelebt zu haben, von 1962 bis heute. Vielleicht war es die beste Zeit, welche diese Erde je erlebte. 

Ich danke allen Freundschaften, Helfenden und Beziehungen, den Geliebten. Die Begegnungen und das Miteinander sind mE die einzigen Momente, wo ein Mensch dem Leben alles abringt. Und davon hatte ich mehr als man es sich vorstellen kann. Ich lebte an 15 Orten. Ich hatte vier Berufsausbildungen und endlos spannende Aufgaben. Ich war zwei Mal verheiratet und tausend Mal verliebt. Also täuscht euch nicht, was am Leben ich nicht gelebt hätte. 

Was heute nun 'zählt', das vermag mich nicht mehr zu berühren. Es zählen die Tracker und ermahnen dich, Wasser zu trinken oder zu Bett zu gehen. Hierfür bin ich zu emanzipiert. Wo ich als Mensch noch hingelangen gemocht hätte, dafür tötete zuletzt ein Krebs meine Liebste und raubte ein Virus alle Möglichkeiten. 

Wer mich kennt und über lange Jahre mich las, die oder der weiß, dass ich mich immer und immer wieder mit dem Wort 'Deon' beschäftigte - der Pflicht ... 

... doch zu sein eben, 'sein Vater'. So schließt sich der Kreis. 

Und erneut staune ich über meinen Vater, eine Figur, die mich mein Leben lang nährte, gerade darin, dass er mich nicht zu sehr bei sich haben wollte, wie er niemandem zu sehr bei sich sein ließ. Er war kein kalter Kerl. Er war voller Poesie und Leidenschaft. Doch was ihn abhielt, mich und viele andere an sich heran zu lassen, war immer und immer wieder eine Haltung, dass er sich nicht sicher sein konnte. Im Sinn von: "Wie soll ich dir zurufen "komm her"? Wie, wenn ich es doch selber nicht genau weiß." Wann immer er etwas nicht wirklich umfasste, es sogar eher von sich wies, musste man versuchen es so zu sehen, dass er rücksichtsvoll war, mit deinem Raum, deinem Werden, deiner Ganzheit, deiner Emanzipation und last but not least deiner Person - sprich: Er blieb gebührend in Abstand zu deiner, auch meiner, ganzen Schönheit, die er mehr respektierte, als jede eigene Sehnsucht. So verstanden wir, er wie ich später auch, Liebe. 

Da wieder, im Geben statt im Nehmen '... eben zu sein, sein Vater'. 

Danke an euch alle.

Jona Jakob


Von mir bleiben fünf Blogs. Die findet ihr am rechten Rand verlinkt. 

Google: 
Nun steht aber das Allgemeine , das ich als meine Pflicht verwirklichen soll , nicht fest , sondern ist allerlei historischen Schwankungen unterworfen . ... Die Hauptsache ist darum nicht , daß ein Mensch an den Fingern herzählen kann , wie viele Pflichten er hat , sondern daß er ein für allemal die Intensität der Pflicht gefühlt hat ... die Hauptsache , das Eine was not tut , ist und bleibt doch , daß ein Mensch im Verhältnis zu seinem eigenen Leben nicht sein Onkel ist , sondern sein Vater .