Mittwoch, 15. Dezember 2010

Nachmittagssicht

Bei mir gibt es eine Aussicht. Es liegt da der Main zwischen den Ufern blattloser Büsche. Seine schlammtönerne Kälte wirkt. Gegenüber ist Bayern, was ich stets komisch finde. Dort liegen Felder, da kein Baum die Sicht darauf verdeckt. Schwemmland. Erst weiter hinten folgt etwas Industrie und dahinter erheben sich am Horizont die Weinberge des Spessart. Heute liegt Schnee und über allem steht in Grau der Himmel.

Der Blick ist jener auf ein historisches Landschaftsbild, gemalt in tristem Öl und schwer gerahmt, fast bürgerlich und etwas aus der Zeit. Über die Felder ziehen, je nach Jahreszeit, Tiere. Ein Rehpaar und ein Fuchs heben sich im Winter gut gegen das Weiss des Schnees ab. Kormorane balzen. Und Rammler prügeln sich die Pfoten um ihre langen Ohren, wenn es Frühjahr wird. Hunde und Pferde werden von Menschen getrieben. Die passen nicht wirklich ins Daliegende. Sie wirken zielstrebig und das strahlt die Landschaft nicht aus. Sie strahlt nichts Nennbares aus. Sie liegt einfach da und das scheint es zu sein, womit sie mich erreicht.

Ab und zu kreuzt ein Frachtkahn auf dem Main durch das Bild. Leise und stoisch fährt so ein Pott an den Rhein oder ins Schwarze Meer, was weiss ich. Die schiebende Bewegung des Kahns hebt dabei das Daliegende der Landschaft hervor - ein paar Wellen noch, dann scheint wieder alles wie zuvor.

Ich vergesse dann manchmal, dass jemand anrufen könnte und fahre zusammen.


Text von Jona Jakob, Dezember 2010 - Copyright Jona Jakob ©