Sonntag, 3. Februar 2019

Es ist nun der fünfte Mensch, der stirbt und mit ihm sterbe ich ein gutes Stück mit.

Es ist nun der fünfte Mensch, der stirbt und mit ihm sterbe ich ein gutes Stück mit - außer bei meinem Vater, der besteht als Teil meines Ichs in mir. Das ist bei mir wohl so: ich bestehe aus Bezügen, Erinnerungen, Sentimentalem - aus Gefühltem. Und je nachdem was einst war, verschwinden mehr oder weniger Anteile von mir, wenn jemand durch den Tod abhanden kommt. Mir wird es nie mehr möglich sein, diesen Teil "unserer Geschichte" jemandem wirklich erzählen zu können, es wird ab jetzt immer nur mein Teil daran sein - die andere, zweite Seite ist nicht mehr, meinem Erzählen fehlt es an Harmonie. Mir fehlt dann die zweite Komponente, die aus 1 + 1 = 2, 8 oder 3,5 gemacht hat und so verliere ich nicht nur diesen Menschen mit seinem Anteil meines Bestehens, ich verliere besonders jenen Anteil, den wir zusammen bildeten, dieses Plus Ultra, ... above & beyond. Oder habt ihr schon mal Abba-Songs mit nur 1 Stimme gehört?

Und so wird jede und jeder, der vor mir stirbt einen Teil meines Todes sein, denn irgendwann bin ich nicht mehr, weil das passende "Zubehör" nicht mehr existiert. Mit Stefan ging etwas, mit Gina, nun mit Renate. Wovon ihr mir, zum Beweis, wohl nun reden würdet, das sind dann eben nur Erinnerungen. Jenes hingegen, wovon ich schreibe es zu verlieren, ist Anteil meines Lebens. Auch wenn ich die Person vielleicht Jahre nicht gesehen oder gehört habe. Es gibt einige Lieben aus meinem Leben, an die denke ich nicht einmal - auch wenn sie damals wichtig waren. Doch weiss ich um ihren sicheren Tod, bricht aus mir eine schillernde Paillette meines gesamten Wesen und macht mich dünner und wässriger.

Wie sehr ich darin existent bin, euch alle verinnerlicht zu wissen, mag vielleicht kaum jemandem so richtig klar sein. "Ach, erzähl doch." Wohingegen ich es so empfinde, wenn ich täglich schreibe und gelesen werde, reise und begegne. Ich fühle diesen Tod, als hätte ich einen Schuh verloren, oder den rechten Arm. Man zieht wo einen Faden raus und aufsmal fällt das Gewebe auseinander. Danach ist kein Stoff mehr. Es mögen noch viele andere Stoffe da sein, doch dieser ist nicht mehr - ich brauche niemandem etwas noch davon erzählen, ich würde fahrig klingen, da meine Worte nicht mehr getragen wären.

Das zeigt meine Stärke in all den Punkten, wo die Stoffe in ihrem Strick noch intakt sind. Ob hervorgeholt oder lange vergessen, lebendig tragen sie sofort und jederzeit und vermögen im Dasein des Anderen alle ihre Farben, die bunten und die trüben, noch zu zeigen - erzähle ich von jemandem Geschichten, die/der noch lebt, könnte jederzeit dessen Stimme aus dem Off mir den Rücken stärken. Die Toten aber, sie reden nur mit mir - damit muss ich dann selber klarkommen.

Eines sei von mir hier deutlich gesagt: Ich kann nur mit einer Frau leben und mit einer Haushaltung, mit einem Ort. Das bedeutet aber in meinem Wesen seit meiner Kindheit nicht, dass ich nicht unzählige geliebte Bezüge hätte. Bis hin zu Musikstücken, Rezepten, Tieren, Wohnungen, Styles, Bilder, Filmen, und eben euch, Menschen, Menschen, Menschen. Es gilt auch für mich, dass ich nicht jeder warmen und einladenden Geste zu folgen habe, das ist auch gar nicht notwendig. Was ich aber für niemanden 'einzig' gelten lasse, mein Leben lang schon, dass ich die Geste, das Herz, welches ich geschenkt kriege, niemals aus mir abgrenzen würde. Weder bei Mann noch Frau, bei ferner oder näher, bei jünger oder älter. Ist da ein feines Gewebe, ein Faden des Fühlens und Verstehens, der hält, ist das das wirklich EINZIGE, was mir Leben zum Leben macht. Und wenn eben jemand dann nicht mehr ist, geht für mich ein Teil als verwobene Verbindung verloren.

Als ich heute die Nachricht verstand, sie, die so sehr gesund lebte, schoss ein Gedanke durch meinen strapazierten, teils müden Körper: '... und ich, ich bin es, der nochmals heiratet.'
Meine letzten 20 cm auf dem Zollstock des Lebens werde ich eines tun: Leben. Ich werde verlieren, Faden für Faden, und ich werde genau daher leben, bis ein dünnes Fließ meine Restseele abstaubt, auf dass auch ich nicht mehr bin.


Sei getragen.

Und ihr auch ... seid getragen.

Jona Jakob, Bern