Sonntag, 21. August 2016

Als Kind wollte ich Indianer werden - oder Spion. Warum ich gut hören kann.

Was ich nun schreibe kann Fantasie sein. Meine Fantasie. Doch gestern Nacht meinte ich eine Wahrnehmung gehabt zu haben, die sich zu einem Gedanken festigte und irgendwie lässt mich dieser Gedanke in seiner Resonanz nicht los.

Ich hörte mein Leben lang gut. Auch sind meine anderen vier Sinne überaus hervorragend, also ich habe grosse Ahnung von Geschmäckern, von Haptik, ich sehe gut und habe eine feine Nase. Aber das mit dem Hören, das nahm ich bisher so hin. [Hinweis: achtet euch auf "Selbstverständlichkeiten", die ihr eure Lebzeit konntet - vielleicht sind es Künste, Ihr aber habt euch daran gewöhnt und findet es normal.]

Als Bub schon konnte ich hören, ob eine Langspielplatte besser oder magerer vertont oder produziert wurde. Ich hörte schlechte Mikrophone und ganz besonders jedes einzelne Klangbild aus der Kombination von Tonquelle, Raum und Lautsprecher. Ein Graus, als die MP3-Dateien aufkamen. Ein Hochgenuss, im Klang drin zu sitzen, ob in einem Naturtonwandler oder im Klang eines Orchesters.

Bild (c): Jona Jakob, privat

Ich würde meinen, in den letzten 50 Jahren sind alle Erlebnisse in Sachen Sinne verflacht, verdünnt, ausgewaschen und zum Teil leer geworden. Das raubt mir einen Teil meiner Lebensfreude, wäre ich doch, wie teure Lautsprecher, fähig noch zu leben, was möglich ist. Aber so kochen wir instant und haben von wirklichem Geschmack kaum Ahnung mehr. Letzthin nahm mich wer in einem offenen VW-Käfer-Cabrio mit, einem alten Käfer. DAS war so ein ganzes Erleben, von Enge, Blech, Klapprigkeit, alten Bezügen, Motor- und Öldüfte.

Zurück zum Hören. Ich war gestern für 1,5 Stunden in einer Dokumentation über ein deutsches Blechblasorchester gefangen, weil ich nur noch hören wollte:

ARD-Mediathek: http://www.ardmediathek.de/tv/Blechnarrisch/Blechnarrisch/ARD-alpha/Video?bcastId=37192968&documentId=37246954

Weil mir das Hören wichtig war, setzte ich mich korrekt in die Akustik unserer TV-Soundanlage. Ich arbeitete. Ich tauchte ein, wie ein Taucher an einem Riff. Die Klänge, die Menschen, das Gesprochene, die Instrumente ... ich tauchte auch in den Bildern in Klänge ein. Ungefähr so, als würde ein Taucher eine Symphonie wie warmen Fonduekäse oder eine Hühner-Nudelsuppe geschmacklich erleben. Hören, als wäre man in einem dieser Unterwasser-Glastunnel in einem Ozeanum. Es mantelt mich und alle meine Sinne ein - und weckt dadurch meine Intuition.

Obwohl ich die komplexe Komposition nicht kannte, konnte ich mitsummen, mit den Händen dirigieren, ob es nun gleich nach oben, nach unten, in einen Abbruch ging, ein leises Ausschweben. Ich flog mit. Ich trieb im Sound. Ich verwob das Erlebnis zur Symbiose. Ich verschmolz und sass fuchtelnd und bewegt mit klarem Kopf und offenem Geist wie ein Riesenhai mit offenem Maul in der See treibend, Plankton membrierend, feinst. Alles floss wie in warmer Butter. Ich war nicht wirklich zu spät sondern lag im Mitgehen eine halbe Sekunde vor den Tönen.

Als die TV-Sendung fertig war, ging mein Geist in mir der Frage nochmals nach, warum ich allenfalls so fähig bin, seit Kindheit, seit ersten Schulklassen in und unter den Tönen zu wandeln?

Und nun meine Antwort:

Weil ich leise sein musste. Leise in allem. Das fing unten an der Haustüre an.
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Wenn du leise sein musst, so mein Gedanke, musst du von jeder Möglichkeit, von jeder Bewegung, Material, Berührung, Kontakt, Veränderung, Werkzeug, Gerät, Scharnier, Möbel, Boden, Türen, Fenstern, Töpfen, Geschirr, Gläsern, Menschen, Quellen, Rohren, .... einfach ALLEM wissen, wie es klingt. Du musst wissen, wie es klingt. Du musst genau hinhören und es präzise gestuft und skaliert erfassen, was es akustisch verursacht, wenn es in Bewegung oder Berührung kommt. Ein Schnitt mit einer Schere. Eine Brotscheibe auf der Küchenablage geschnitten oder in der Hand. Papiertüten aufreissen oder auffalten. Besteck ins Spülbecken fallen lassen oder es einzeln geräuschlos legen. Über Parkettböden jonglieren, wie in einem Bachbett, damit Dielen nicht knarzen. Nichts aufdeppern lassen, alles feinst aufsetzen. Nichts ruckartig bewegen, sondern langsam, feinst, geräuschlos. Ich weiss heute noch bewusst, ob du mich atmen hörst oder wie ich atmen kann, ohne dass du dieses feine Rauschen vernimmst. Leise kauen. Durch die Unendlichkeit schleichen wie ein Indianer.

Ich musste in der Schulzeit leise sein, weil meine Mutter als Nachtschwester arbeitete und von da an, wo wir in die Schule gingen, versuchte  zu schlafen. Schreckte sie tagsüber auf, war fertig mit Schlaf und sie allenfalls schlecht drauf.

Meine Buben-Berufsträume waren:
- einsamer Indianer, der als Scout oder Späher durch Wälder schleicht und Spuren liest ... oder
- einsamer Spion, der auf leisen Sohlen die Welt verändert

Noch heute ist eine meiner zentralen Strategien, ne Menge Wirbel zu verursachen, damit niemand erkennt, was ich leise und ohne jeden Ton noch Zeichen angehe. Ne Macke feinster Art.

Ich konnte in der lautesten Disco Zeug wahrnehmen und treffsicher deuten, was andere lieber verheimlicht hätten.

Ich liebe noch heute das Nichts. Vom Nichts habe ich massiv Ahnung. So liebe ich Bilder mit Fragmenten und deren leeren Dazwischenräumen. Zum Spiel von Maceo Parker schrieb mal wer: "Es ist weniger wichtig, was er spielt - viel mehr zählt, was er nicht spielt." Ich bin extrem starkt darin zu erkennen, was jemand nicht sagt, nicht zeigt, nicht schreibt oder was man mir vorenthalten möchte. Woanders las ich, dass es um diesen Bruchteil von Zeit gehe, in welchem das Orchester absetzt und das Publikum anfängt zu applaudieren. Ich liebe das Dazwischen. Ich vermag dort zu sein. Ich kann dort.

Und obwohl mir alle fünf Sinne helfen und ein massives Ortungsvermögen als meine Intuition mich mit einem sechsten Sinn unterstützt, ist es dieses höchst komplex verdichtete Hören, welches  mir in Gesprächen mit Klienten die Fähigkeit schenkt, Dinge auszuloten, noch während der andere Mensch / Klient nicht zu ende gesprochen hat, gleichzeitig aussenvor zu bleiben, der nicht-direktiven Zentrierung wegen, aber ich kann keinen Einlass in die Tonhalle kriegen und mit dem wage Vernommenen den Rest ins Ganz konstruieren. Ich kann wen ganz und gar hören.

Und da das Gesprochene, das Intonierte nicht alles ist, was mir wer vermittelt, vermag ich wie ein beobachtender Hund jede kleinste nonverbale Regung von einem anderen Menschen intonieren. Egal wie du dich gibst und regst, ich 'höre' deinen ganzen Anteil an Non-Verbalem bis hin zu Verfärbungen deiner Haut, deiner Augenringe, deiner Sitzhaltung und all den tausenden von Veränderungen, die du mir in Stunden zeigst. Ich höre dich noch im anderen Raum. Ich höre, wie du mit Dingen umgehst. Ich höre alles Fühlbare. Ob es klingt oder nicht. Und auch: ich weiss dabei um jede Rhythmik, Kadenz, Zu- und Abnahme von Zeichen, Weggelassenem, Täuschenden, Maskierendem.

Und wenn das alles gehen und stimmen soll, dann habe ich eben auch eine feste Ordnung zwischen den Dingen. Als wüsste ich präzise, mit welchem Abstand Häuser zueinander stünden. Ich kenne die Abstände, die Dünnheit, die Qualität von Offenheit oder Dichte, von Leichtigkeit oder Druck, von Hell und Dunkel. Ich vermag mich im Nichts zu orten. Ich kann im Dunkeln einen Koffer packen oder Nachtwandern. Ich höre auch jeden Hinweis, den mir Autorinnen und Autoren zwischen den Zeilen, subtextlich, vermitteln. Spiel mir das Lied vom Tod schaue ich mehr im Dazwischen der Begegnungen. Im Gesicht von Lino Ventura den Plot des Krimis erkennen. Ich hörte mit acht Jahren vergnügt Emerson, Lake & Palmer. Ich höre in autofreier Nacht jedes Feinstes, wenn ich mit dem Hund gehe. Mein Rücken hört mit. Meine Nackenhaare.

Und in diesem Vermögen, Hören als einen Tauchgang in warmem Öl zu erleben, fliessend, umspült, koordinatenlos, höre ich aus deinen Worten immer wieder, was dich dann selber erstaunt, da im Getöse für dich selber kaum gleich erfassbar.

-

Ich höre gut, weil ich leise sein musste. - Das war der zentrale Gedanke.

Ich bin heute noch leise - jedenfalls bin ich im Leisen viel mehr ich, als dass ich es in all dem Lärm bin, den ich von mir gebe.


Jona Jakob
Zürich Bern Frankfurt