Sonntag, 7. Januar 2018

"Was treibst du?"

Über die Feiertage ergab es sich, dass mich ein gleichaltriger Buben-Freund über Facebook fand. Nach schier 40 Jahren Kontaktverlust. Und vermutlich hat er das mit seinem Vater besprochen, mit dem es in der Folge zu einem kleinen eMailverkehr kam. In seiner Mail fragt mich nun der Vater, es handelt sich um Urs Dickerhof, ehem. Rektor der Kunstgewerbeschule Biel (Schweiz) und Kunstmaler ...

"Was treibst du?"

Es fragt ein bald 80-Jähriger einen 55-Jährigen: "Was treibst du?"

Meine Antwort in der Mail:

Treiben? Für mich wäre treiben, wenn ich von allem ablassen, hier am Main auf einem rumänischen Lastkahn anheuern und damit nach Constanta am Schwarzen Meer shippern würde, empathisch reisend und ein Buch schreibend, wie Handke in seinem Vers ‚Eigenfarben – Über die Dörfer‘ 

Heute, ein paar Tage später, treibt mich die Frage weiter um: Was treibe ich?

Und dann beobachte ich mich selber, wie ich nach einem Jahr des Umzuges und der Neuorientierung von Aschaffenburg aus manchmal einfach rumstehe, wenn ich mit dem Hund rausgehe und der wo schnuppern möchte. Ich stehe und bin. Das habe ich bisher noch nie gemacht - rumstehen.

Eine andere Sache: Seit sehr langer Zeit, es sind Jahre, lese ich einen Roman. 'Das Leben des Vernon Subutex' von Virginie Despentes. Ich lese nicht um des Lesens Willen. Ich kenne die Verlorenheit des Vernon und ich mag die Sprache, mit der Despentes den Typen beschreibt. Ich lese aus diesen zwei Gründen 3-5 Seiten weiter - ich will aber nicht wissen, wie es weitergeht. Nur die paar Seiten Wörter und Bilder aufnehmen. Sonst nichts.

Gestern setzte ich mich vom Arbeitsstuhl auf das Sofa im Arbeitszimmer, der Hund setzte sich neben mich, leise lief im Hintergrund ein 'Deep House Mix' und meine Liebste setzte sich zu uns, lackierte sich ihre Nägel. Alles war einfach still in sich stehend. Es hätte jemand aufstehen können, nur um zu den Bässen des Chill-Mix mit der Hüfte zu wackel. Aber das auch nur ganz langsam, so in sich versunken.

"Was treibst du?"

Ich werde das glückliche Gefühl nicht los, mit "Treiben" eine der wenigen Formen von Sein zurückgefunden zu haben, in der es dem Optimierungs- und Leistungswahn, den existenziellen Pflichten und der Arbeit schlicht nicht möglich wird, diese Freiheit mit Hintergedanken und Absichten, Erwartungen oder sonst MindFuck zu vergiften bzw. zu trüben. In dieser Hinsicht, allgemein gesprochen, befürchte ich, sind wir schier alle massiv unterwandert, selbst wenn wir Yoga machen oder uns in Läufen per Tracker vertun. Bei all der Selbstdarstellung, wie sehr man gerade in der Natur sei und davon Bilder postet - ich kriege es kaum mehr hin, das als "Treiben" zu erfahren. Treiben, so meine aktuellen Gedanken, ist noch absichtsloser. In mir will nichts. Vielleicht eine Art 'Flow' - wie ich letzthin wo schrieb: "Flow ist tun können, ohne zu müssen."

Es kann ja einfach sein, dass nach den letzten Jahren der Neuaufstellung, der Repositionierung, der Ausbildung und des Umzuges ich keine Zeit mehr fand, die sich neu wieder ergibt. Aber ich habe auch jetzt grosse Ziele vor mir.

Es spielt aber nicht wirklich eine Rolle, warum ich neuerdings zu 'treiben' vermag. Ich bin innerlich auf einer Luftmatratze auf einem fliessenden Fluss im Sommer und treibe.  Bei offenen Fenstern nachmittags im Wohnwagen rumfletzen. Im warmen Kaffee sitzen und versuchen, die acht Zeilen Lyrik zu durchdringen. Etwas von Hand schreiben.  Mit dem Finger etwas auf den Rücken von jemand zeichnen und fragen, was war es? Bleistift und Block.

In einer TV-Doku wurde ein ehemaliger Turmspringer gezeigt, der aus einem Grund zerebral gelähmt war und sich nach langer Therapie halbwegs und unsicher wieder auf den Beinen halten konnte. Daher wollte er dringend nochmals vom Turm springen, was er aus drei Meter Höhe tat. Man half ihm und er sprang kopfüber. Als er am Beckenrand ankam und er strahlend in die Kamera lachte, sagte er: "Es ist nicht der Sprung oder dass ich es konnte. Was mich so glücklich macht ist das Gefühl, im Pool zu sein." Verdammt: Genau das ist der Unterschied! Nicht "Schwimmen gehen", nicht "Sport treiben", nicht "für die Gesundheit" - sondern einfach nur das Gefühl, im Wasserbecken umspült zu treiben. Er hat so recht, "im Pool sein".

Mich treiben lassen - ist das vielleicht, dem dänischen 'hygge' ähnlich, kein Sein, auch kein Lassen. Es könnte ein 'Bleiben-lassen' sein.

However - ich weiss es nicht. Was ich aber spüre: ich werde das mehr suchen und versuchen. Sollte ich daher mal nicht antworten, obwohl angesprochen, dann bin ich dort. Mich treiben lassend.

Was treibst du? Was treiben Sie?

Mit unbekümmerten Grüssen