Mittwoch, 13. Juni 2018

Hören als Zugang zu mir.

Bei HiFi-Geräten nennt man es einen Zugang. Manchmal auch einen Ausgang, aber die meisten Stecker an der Rückseite sind Zugänge. Irgendwas kann da rein.

Ich sitze, würde man mich beobachten, in einer Art Trance oder Unbeweglichkeit und mit geschlossenen Augen im Sessel, der sich zentral gegenüber meiner HiFi-Anlage positioniert.

Bild: Eigentum (r) Jona Jakob, Coachingraum

Als Musik ist gewählt ein 'te deum' von Arvo Pärt, der Chor singt. Ich versinke. Versinke in der Klanggewalt hochwertiger Lautsprecher und neu erhaltenem Verstärker mit CD-Spieler. Das war alles nicht teuer, zählt aber in der HiFi-Welt zu den sehr guten Klangquellen. Hier vereinen sich, falls Kenner lesen, zwei Infinity Kappa 7, ein NAD Vollverstärker und ein NAD CD-Spieler. Mehr nicht.

Auch wenn alles sehr repräsentativ aussieht und beeindrucken kann, HiFi, also das Hören von Musik, bleibt keine Frage des Aussehens sondern des Hörens. Was an Klang entsteht? Und von welcher Qualität ist dieser? Und last but not least, was vermag ich selber zu hören?

Eine kleine Klammer dazu, was ich zu hören vermag. Ich stehe vor einem HiFi-Fachgeschäft und dort stehen zwei schwarze Geräte, die enorm grosse Masse haben und an ihren Frontseiten nicht mehr, als eine Leuchtdiode. Nicht ein einziger Knopf. Der Preis ist mit 4000.-- angegeben. Jetzt will ich mehr wissen und betrete das Geschäft. Der freundliche Herr nach meinen Fragen: a) Ja, je Stück 4000.--, und dass das Geräte sind, die je Stereokanal (also mono, wenn zwei) die Spannungsschwankungen des Stromnetzes ausgleichen. "Aha!" - Ich verstehe aber nur Bahnhof. Der Herr: "Setzen Sie sich hin, ich spiele es Ihnen vor." Er spielt Musik ab, mal mit diesen beiden Kisten, mal ohne. Ich: "Bitte nochmal mit ... - und jetzt nochmal ohne." Dann sage ich: "Wenn die Geräte zugeschaltet sind, höre ich die Musik in dem Sinn klarer, als würde man mir eine vernebelte Sicht per Optikeinstellung auf volle Sichtschärfe einstellen - ich kann alles messerscharf erkennen. Oder wie in diesem Fall "hören"." Der Herr: "Wenn Sie das hören, lohnt sich für Sie der Kauf." Er staunte nicht schlecht ... Was mich erstaunte: Wie schwammig und vernebelt die sonst so klar wirkende Musik herüber kam, wen die Dinger nicht angeschlossen waren. Wir hören generell einen fürchterlichen Brei. Jedenfalls ich, egal was die Tonquelle oder Medium ist und die sind ja in den letzten 20 Jahren nicht fetter oder besser geworden. Was wir im Stream oder als MP3 hören, ist der Durchfall der Klanggeschichte.

Bild: Eigentum (r) Jona Jakob, Vollverstärker, CD-Spieler

Wenn ich zuhöre, ist das intensive Arbeit. Gehe ich in ein Symphoniekonzert, ist es nicht selten der Fall, dass Menschen danach fragen, ob es mir gut geht? Ich sehe aus, als hätte mich ein Hund etwas zu lange in seiner Schnauze zerkaut, müde und abgekämpft, habe Ringe unter den Augen und meist stehe ich nicht wirklich aufrecht, bis hin zur Schwindeligkeit. Ich bin im Konzertsaal auch nicht scharf darauf, viel zu sehen. Wichtiger ist mir bei der Platzwahl, wo ich was auf die Ohren bekomme. Dann tauche ich mit geschlossenen Augen ein - und höre.

In Coachinggesprächen höre ich weit über meine Ohren hinaus mit allem, was für mich zu meinem Torso gehört, also allem außer den Beinen. Ich höre besonders mit den vorderen Oberarmen, dem Brustbereich, dem Hals. Wichtig sind auch der Rücken und ganze Partien im Gesicht und am Kopf. Ich höre mit den Handrücken und den Rücken meiner Finger.

Gerade höre ich das zweite Stück aus dem te deum. Ich bin nicht versunken, obwohl alles so aussieht, ich bin vielmehr höchst präsent und freudig angetan. Der saubere Klang geht in mich rein. Wer auch immer was an Genussmitteln in seinem Leben genossen hat weiss, was davon gute Ware ist und wie die sauber wirkt. Hier ist es das Mass und die Qualität von Klang. Das Werk von Arvo wird plastisch. Seine Sprache der Komposition und des Arrangements, die Orchestrierung aus seinem Dirigieren (Conduct),  kommt durch, es fehlen keine Silben, Enden, Absätze - alles tritt hervor, als stünden der Chor und die Streicher im Raum.

Hören als innerer Zugang.

Ich kann danach nachts nicht schlafen. Ich bin wie von Vitamin C wach geladen und geistig präsent. Mich zieht heute keine Pflicht oder Termine ans Arbeiten. Ich bin sonst belebt.

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Was mich aufstehen lässt und seit längerer Zeit wieder mal Philosophie lesen, ist die Reinheit der gehörten Essenz. Der Zugang des reinen Hörens erweckt in mir den Zugang zu geistigen Sphären, zum Hören, Lesen, Ruhen, Verstehen, Fühlen und Verarbeiten. Dank dem unfassbaren Klang und meiner Fähigkeit, diesen  sensitiv aufzunehmen, schliesst dieser in mir jenen Kosmos auf, in dem ich den Dingen auf den Grund gelange - ich lebe in dem Moment, intensiv und mit allen Sinnen. 


Bild: Eigentum (r) Jona Jakob, Der Raum unterstützt das Erlebnis.

Als gegenteilige Reaktion kenne ich mich, mitten im Gespräch hektisch auf die Radioknöpfe zu drücken, weil "ich den Scheiss, der meine Ohren zumüllt, nicht länger ertragen kann".  - Alle sind konsterniert. Mag sein, das tut mir leid. Ich mag es aber nicht tauschen gegen mein Glück der Geburt, über reines Hören einen Zugang zu haben, der mich erweckt.

Gute Nacht.

Text by JJ, 2018


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